Geschichten vom Tun

Biodiversität gemeinsam erhalten.

Der Waldrapp – ein Vogel eigener Schönheit – fast ausgestorben, lebt wieder im Almtal. Ein gelungenes Beispiel erhaltener Vielfalt, ermöglicht durch die Konrad Lorenz Forschungsstelle und engagierte Beobachter*innen. Ein Projekt, das zeigt, wie gemeinsame Arbeit in diesem Bereich funktionieren kann.

Verenas Waldis & der Wert der Vielfalt

Alle zehn Minuten stirbt eine Art. Der Waldrapp war in Europa bereits ausgestorben, doch Forscher:innen wollen ihn jetzt wieder ansiedeln. Kann das gelingen? Und: Wer braucht diesen komischen Vogel überhaupt?

Verena weiß, was ihre Waldis wollen. Wenn sie frühmorgens Futter anrührt, dann steigt ihr deshalb der strenge Geruch von geschredderten Küken, zerhackten Rinderherzen, Hundefutter und Würmern in die Nase. Wie üblich lädt die junge Verhaltensbiologin den Kübel mit dem Fleischbrei ins Auto und fährt zur alten Forschungsstation. Die Waldrappe sind da bereits aus ihrer warmen Voliere auf das Dach der Station geflogen und warten in der Winterkälte auf die Lieferung ihres Lieblingsfrühstücks.

„Kommt, Waldis, kommt, ko-oommt“, ruft die Forscherin und verstreut das Futter auf der Wiese. „Tschrupp, Tschrupp. Tschrupp, Tschrupp“, gurren die schwarzen Vögel und beginnen, sich Fleischbrocken wie Popcorn in den Schlund zu werfen. Die Waldrappe müssen gefüttert werden, weil sie im gefrorenen Boden nicht nach Nahrung stochern können. Und weil die Vögel nicht wissen, wie sie nach Süden ziehen sollen, wo die Erde auch bei Frost nach Würmern und Engerlingen durchstochert werden könnte, bringt ihnen die Forscherin im Winter zweimal täglich Futter.

Verena Pühringer-Sturmayr arbeitet an der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau im Almtal. Dort, wo der berühmte Nobelpreisträger Lorenz Graugänse beobachtete, erforscht die Biologin den sozialen Zusammenhalt und das Ausflugsgebiet des Waldrapps. Ihre Arbeit soll helfen, ein Ziel zu erreichen: den glatzköpfigen Vogel, der in Europa schon vor 350 Jahren ausgestorben war und heute weltweit zu den an den meisten gefährdeten Vogelarten zählt, wieder anzusiedeln.

Der Waldrapp sei schon ein „charismatischer Vogel“, sagt Pühringer-Sturmayr, aber auch sehr ängstlich. „Manchmal erschrecken sie sich sogar vor ihrem eigenen Schatten." Und der Waldrapp sei zwar ein guter Langstreckenflieger, aber tollpatschig auf Kurzstrecken. Doch nicht seine Tollpatschigkeit wurde dem Vogel, der ursprünglich vor allem im Nahen- und Mittleren Osten, in Nordafrika, der Türkei, auf dem Balkan und eben im Alpenraum verbreitet war, schließlich zum Verhängnis, sondern: seine Schmackhaftigkeit.

Schwarzer Vogel, rote Liste

In Europa wurde der Ibisvogel deswegen durch intensive Bejagung bereits vor 350 Jahren ausgerottet. Andernorts wurde sein Lebensraum zerstört und auch der Einsatz von Pestiziden wurde ihm zum Verhängnis. In freier Wildbahn leben heute nur noch wenige hundert Vögel, die meisten von ihnen in einem Nationalpark im Süden Marokkos. Der Waldrapp zählt damit zu den am stärksten bedrohten Vogelarten weltweit. Seit 1997 widmen sich Forscher:innen in Grünau im Almtal der Grundlagenforschung zum Sozialverhalten der Waldrappe und sammeln Wissen für Wiederansiedelungsprojekte.

Vögel mit Zug zum Süden, aber ohne Route

Derzeit lebt eine Freiflugkolonie von ungefähr 30 bis 40 Waldrappen im Almtal. In ihrer Voliere im Cumberland Wildpark, wo sie jederzeit ein- und ausfliegen können, brüten und schlafen die Vögel – und im Winter wärmen sie sich unter Infrarotlampen.

Pühringer-Sturmayr fand in der Forschung für ihre Dissertation heraus, dass während der Brutsaison jene Tiere, die verpaart sind – also auch mehr „Nettigkeiten miteinander ausgetauscht haben“ – weniger Endoparasiten aufweisen als unverpaarte Tiere. Das sind wichtige Erkenntnisse: Will man nämlich Vögel übersiedeln, erklärt die Forscherin, dann wisse man so, welche Tiere aus der Kolonie ausgesucht werden sollen, damit sie gemeinsam übersiedelt werden können.
Bei der Auswilderung von Waldrappen gibt es jedoch eine große Herausforderung: Durch seine Ausrottung haben die Vögel ihre Flugtradition verloren. Jungvögel haben zwar noch Zugdrang, wissen aber nicht mehr wohin. Denn die Routen werden Jungvögeln normalerweise von den Eltern oder anderen Kolonie-Mitgliedern gezeigt. Weil zu Beginn der Schutzprogramme selbstständig ziehende Altvögel fehlten, wurden einige in den Alpen ausgewilderte Waldrappe an menschliche Bezugspersonen gewöhnt und mit Hilfe von Ultraleichtflugzeugen in ein Überwinterungsgebiet nach Italien geleitet.

Lorenz‘ Wirkstätte als Bezugsort für Waldrappe

Die Waldrappe der Almtal-Kolonie wissen zwar nicht, wie über die Alpen in den Süden fliegen, kommen aber immer wieder zur alten Konrad-Lorenz-Forschungsstelle zurück. Für die Tiere sei das Haus mittlerweile ein wichtiger Bezugsort geworden, erklärt Pühringer-Sturmayr. Deswegen sei es wichtig, die alte Forschungsstelle, einst von der Cumberland-Stiftung finanziert, zu erhalten. Nicht nur für die Beobachtungen und die Datenaufnahme der Forscher*innen, sondern vor allem auch für die Tiere selbst.

Jede Art zählt: Die Rolle des Waldrapps im Ökosystem

Aber warum soll man den Waldrapp überhaupt schützen, wird Pühringer-Sturmayr von Besucher*innen öfter gefragt. Weil jedes einzelne Tier im Ökosystem eine wichtige Rolle spiele, sagt sie dann. Der Waldrapp sei etwa Beutetier für Greifvögel und: Mit seinem Gestochere würde er – genauso wie der Regenwurm – die Erde auflockern und damit die Bodenqualität verbessern. Dabei würde der Vogel Felder und Wiesen von Schädlingen wie Engerlingen befreien, und so auch für den Menschen einen Nutzen haben.
Artenschutz solle jedoch nicht nur nach ökonomischen Kriterien bewertet werden, sagt Pühringer-Sturmayr. „Es geht auch darum, dass zukünftige Generationen noch dieselbe Lebensqualität vorfinden sollen wie wir.“ Und dazu würde auch die Vielfalt der Arten wesentlich beitragen. Letztlich brauche jede Art zum Überleben ein funktionierendes Ökosystem – auch der Mensch. Alles sei miteinander verbunden, sagt die Forscherin, es ließe sich oft gar nicht sagen, welche Auswirkungen der Verlust einer Art auf ein Ökosystem habe.

„Zukünftige Generationen sollen dieselbe Lebensqualität vorfinden wie wir. Dazu gehört auch die Vielfalt der Arten.“ (Verena Pühringer-Sturmayr)

Bürger*innen & Philanthropie für den Erhalt der Vielfalt

Um die Biodiversität zu bewahren, müsse rasch etwas getan werden, so die Verhaltensbiologin. Der Mensch müsse etwa Schadstoffausstoß und Lichtverschmutzung verringern und sich aus Naturräumen zurückziehen. Dafür brauche es das Engagement jeder/jedes Einzelnen und das Bewusstsein der Öffentlichkeit, genauso wie zusätzliche Mittel für Forschung.
Um die Aufenthaltsorte von Waldrappen zu erheben, setzten die Forscherinnen auch auf die Hilfe von freiwilligen Helferinnen: Mit der WaldrApp konnten Bürgerinnen und Bürger Informationen über den Verbleib der Waldrappe und die ökologischen Eigenschaften der besuchten Gebiete dokumentieren. Neben derartigen Citizen Science-Projekten sei gerade auch die finanzielle Unterstützung etwa durch Stiftungen wichtig für die Forschungsarbeit, sagt Sonia Kleindorfer, die Leiterin der Forschungsstelle in Grünau. Pühringer-Sturmayr selbst, will jedenfalls weitermachen und ihren Beitrag zum Erhalt der Artenvielfalt leisten. Ihre „Waldis“, die würden das sicherlich wollen.

Zur Recherche

Wir haben Verena Pühringer-Sturmayr und die Waldrappe im Herbst und Winter 2021/22 im Almtal besucht. Während Verena uns geduldig ihren einzigartigen Arbeitsplatz gezeigt und uns begeistert von ihren „Waldis“ erzählt hat, wollten die Vögel bei unserem zweiten Besuch ihre warme Voliere nicht verlassen. Wir haben es ihnen nicht verübelt: Schließlich hatte es geschneit und unter den Wärmelampen war es einfach zu gemütlich. Klar, wenn man zu den letzten seiner Art zählt, dann will man auch nichts riskieren. ?

Wie dramatisch ist das Artensterben?

Noch nie war das Artensterben so rasant. Das, wofür die Evolution Millionen Jahre gebraucht hat, wird in wenigen Jahrzehnten ausgerottet. Rund eine Million Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht. Viele drohten bereits in den kommenden Jahrzehnten zu verschwinden, heißt im Bericht des Weltrates für Biodiversität (IPBES). Die Gründe: Abholzung, Luft- und Bodenverschmutzung, Überbauung sowie die Einführung invasiver Arten. Drei Viertel der Landfläche haben Menschen nach ihren Bedürfnissen umgestaltet, und zwei Drittel aller Meere sind von ihrem Einfluss gezeichnet.
Der Living Planet Index (LPI) ist einer der Gradmesser für den ökologischen Zustand der Erde: Inzwischen umfasst er 20.811 Wirbeltierbestände aus aller Welt – Säugetiere, Vögel, Fische, Reptilien, Amphibien. Berücksichtigt sind aktuell fast 400 neue Arten und 4.870 neue Populationen. Die Populationsgröße etwa der Hälfte der Arten im LPI geht zurück. Die Entwicklung zeigt: Die erfassten Wirbeltierbestände schwinden seit nunmehr 46 Jahren kontinuierlich, seit 1970 um 68 Prozent. (Living Planet Report)

Seit 1980 ist die Zahl der Vögel innerhalb der Europäischen Union um rund 600 Millionen Individuen zurückgegangen, wie eine Studie vom RSPB Centre for Conservation Science zeigt. Besonders betroffen von diesen Verlusten waren Arten des Offen- und Kulturlandes. Bewohner von Wäldern konnten teilweise sogar zulegen. Insgesamt haben die Staaten der EU ein knappes Fünftel ihres Vogellebens eingebüßt.
Im Jahr 2010 verpflichteten sich die Staaten dieser Welt, bis 2020 das Artensterben aufzuhalten. Von den zwanzig Zielen wurde kein einziges erreicht. Im Mai 2022 sollen neue Vereinbarungen verbschiedet werden.
Hier findet sich die Rote Liste gefährdeter Arten und die Definition des IUCN (Weltnaturschutzunion) der Gefährdungskategorien.

Warum ist biologische Vielfalt für uns Menschen wichtig?

Die Arten- und Ökosystemvielfalt ist Grundvoraussetzung für die Erzeugung von Lebensmitteln, die Gewinnung von Rohstoffen, die Herstellung von Arzneimitteln und den Erhalt lebenswichtiger, natürlicher Prozesse, wie zum Beispiel die Erzeugung von Sauerstoff, das Filtern von Wasser, die natürliche Schädlingsregulierung, die Bestäubung von Pflanzen sowie die Auf- und Abbauprozesse im Boden. Arten und Lebensräume müssen deshalb nicht nur im Sinne der Natur, sondern auch zum Schutz des Menschen erhalten werden. Denn je höher die biologische Vielfalt, desto stärker ist auch das Sicherheitsnetz für uns alle, mahnt der WWF Living Planet Report.

Die EU-Kommission legte bereits im Jahr 2011 eine Strategie vor, um in den kommenden zehn Jahren den Zustand der Biodiversität in Europa zu schützen und zu verbessern. Für Österreich wurden die internationalen Ziele in die Biodiversitäts-Strategie Österreich 2020+ übernommen. Hierzulande setzt sich z.B. Blühendes Österreich, die gemeinnützige Privatstiftung von REWE International, für Biodiversität und Artenvielfalt ein.