Biodiversität in der Praxis

Das vollständige Gespräch mit Sonia Kleindorfer zum Thema Biodiversität – Einblicke in komplexe Systeme

Ursula Seethaler (US): Frau Professor Kleindorfer, Sie sind die Leiterin der Konrad Lorenz Forschungsstelle für Verhaltens- und Kognitionsbiologie und Botschafterin sowie Themen-Patin des Projektes „Stiftungen als Akteure für Umwelt- und Klimaschutz“, es freut mich, dass Sie sich für unser Gespräch Zeit genommen haben.

Frau Kleindorfer, Sie haben Ihr Leben der Verhaltensbiologie gewidmet, was war Ihre Motivation, wie sind Sie zu Ihrem Lebensthema gekommen?

Ich bin in Philadelphia als Stadtkind aufgewachsen. Meine Eltern haben nie viel Zeit mit uns in der Natur verbracht, also wir waren z.B. nicht regelmäßig wandern oder campen. Der Auslöser für mein Interesse war meine Großmutter, die, nachdem sie zu uns gezogen ist, streunende Hunde aufgenommen und gepflegt hat. 10 bis 15 Tiere über die Zeit. Mir ist dabei früh aufgefallen, dass diese Hunde innerhalb ihrer Art unterschiedliche Eigenschaften und besondere Verhaltensweisen haben, also sehr individuell sind. Das mag für jeden, der ein Tier hat, ganz offensichtlich sein, aber für mich war diese Beobachtung besonders. Dazu kam ein Nachbar, der hatte ein paar Blumen, die er täglich - mit einer Maske im Gesicht - untersucht hat. Ich war natürlich neugierig, und habe mitgeschaut. Eines Tages hat er mir ein Mikroskop geschenkt, weil er bemerkt hat, dass ich Interesse an der Natur habe. Diese Zufallselemente und dieser nette Nachbar, der mitten in einer Großstadt, ein Auge auf die Natur hatte, haben mich dazu gebracht Genetik zu studieren.

Erst an der Uni, als die Vortragenden von den kognitiven Fähigkeiten der Affen gesprochen und ein Bild von ihnen in der Savanne in Kenia gezeigt haben, ist mir klar geworden, dass diese Menschen in die Wildnis gehen und diese Eigenschaften bei den Tieren vor Ort entdecken. Also Eigenschaften, die ich selbst schon bei den verschiedenen Tieren, die ich kannte, gesehen hatte. Mir ist ein Licht aufgegangen und ich habe bemerkt, dass man das auch studieren kann. Das war ganz neu für mich. So begann mein Studium, weil ich dieses Grundinteresse hatte und mitmachen konnte, obwohl ich damals kein extrem naturverbundener Mensch war.

Ich habe mich später in Costa Rica für ein Praktikum und anschließend als Stationsleiterin einer Forschungsstelle in Ostafrika beworben, die von Jane Goodall etabliert worden war. Ich habe zu Beginn unabhängige Studien über Umweltschutz, Primaten usw. durchgeführt, dann ist die Vogelkunde in den Mittelpunkt gerückt, der bin ich 30 Jahre treu geblieben.

Der Unterschied zu heute ist, als ich begonnen habe, haben mich die individuellen Tiere fasziniert und die meisten Tiere, die ich studiert habe, waren sehr häufig, jetzt nehmen die Populationen ab oder sind vom Aussterben bedroht. Irgendwann ist es in mir gekippt und ich habe mir gesagt, ich weiß jetzt genug über das vorhanden sein von Individualität und der unglaublichen Vielfalt, die es innerhalb einer Art gib. Die Tatsache, dass so viele Arten vom Aussterben bedroht sind, hat mich dazu bewogen, jetzt meine Lebensenergie in diese Richtung zu investieren.

US: Seit November 2018 sind Sie Leiterin des Konrad Lorenz Forschungsstelle, wie ist es dazu gekommen?

Ich bin von der Verhaltensbiologie fasziniert, das ist meine primäre Expertise, daher habe ich dafür nach einer Doktorstelle gesucht. Österreich ist das Zentrum der Verhaltensbiologie aufgrund des Nobelpreises für Konrad Lorenz, Karl von Frisch und Nikolaas Tinbergen. So bin ich also von Ostafrika, weg von den Pavianen, nach Österreich gegangen und habe meine Doktorarbeit am Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung in Wien geschrieben. Anschließend habe ich jahrelang in Ecuador im Regenwald, Fidji Inseln, Papua-Neuguinea und Australien gearbeitet. Dort hatte ich erstmals die Chance, Verhaltensforschung als Angebot an der Universität zu konzipieren, war Abteilungsleiterin für Verhaltensbiologie und habe einen Bachelor für Verhaltensbiologie bei Tieren in einem australischen Uni System etabliert.

Wenn man aber immer Pionierin ist, hat man wenige Gesprächs-Partner*innen und ich wollte daher die letzten zehn Jahre meiner Karriere wieder zurück zum Epizentrum der Verhaltensforschung, um das gemeinsam gesammelte Wissen zu konsolidieren. Wo stehen wir jetzt, was haben meine Kolleg*innen und ich in den letzten zwanzig, dreißig Jahren beobachtet? Was ist die Synthese daraus? Was glauben wir, dass wir an die nächste Generation weitergeben sollen? Deswegen bin ich hier.

US: Das ist sehr schön, dass diese Arbeit in Österreich stattfindet. Die Konrad Lorenz Forschungsstelle (kurz KLF) wurde 1973 vom Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz gegründet. Seit 2012 wird sie von der Universität Wien betrieben. Welche Rollen haben dabei die Universität und die Cumberland Stiftung?

Die Universität bietet die Arbeitsplätze und die Infrastruktur an. Die Forschung und die Umsetzung der Projekte ist Aufgabe der Akademiker*innen, die dafür Partner*innen und Drittmittel finden müssen und das ist zunehmend schwierig. Einen weiteren Betrag zum KLF leistet das Land Oberösterreich sowie private Mittel.

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit der Cumberland Stiftung?

Wir bekommen keine Gelder von der Stiftung. Sie stellen uns das Land zur Verfügung - also den Cumberland Wildpark und unterstützen uns bei der Arbeit. Die Universität mietet das Gebäude von der Stiftung und finanziert die Forschungsinfrastruktur. Es ist also eine Partnerschaft. Unsere Gänse können auf dem Land, das von der Stiftung beziehungsweise vom Cumberland Wildpark verwaltet wird, frei herumfliegen und wir können mit deren Hilfe Bruthütten aufstellen, das gleiche für die Waldrappen und Kohlrappen. So ist es für uns möglich, das Verhalten der Tiere wissenschaftlich zu interpretieren und tieferes Wissen über Mensch–Tier-Erfahrungen im Wildpark sammeln. Den Besucher*innen gefällt das. Das ist die Partnerschaft mit dem Wildpark, die Universität Wien hat die Innen-Infrastruktur und Cumberland die Außen-Infrastruktur, also Gebäude und Land.

US: Was ist das Besondere an einer Stiftung?

Ich glaube, es ist wichtig für eine Stiftung, dass Menschen das Gefühl haben, teilzuhaben. Es ist unsere Natur und unsere Welt. Und wenn man dann selber spendet, dann hat man auch eine Anteilnahme, man nimmt teil an dieser Lösungssuche.

Dieses Stiftungsengagement geht Hand in Hand mit einer bürger-wissenschaftlichen Initiative. Wir bieten sehr viele Programme für Bürger-Wissenschaftler*innen, also für Volontär*innen an, die Daten sammeln möchten. Wir als Forschende brauchen einfach Sichtungen und Meldungen, dabei können sich viele Leute beteiligen. Die Expert*innen haben dann mehr Zeit und das Wissen doch statistische Daten auszuwerten, dafür braucht es natürlich eine gewisse Ausbildung.

Ich plädiere dafür, dass jede und jeder Einzelne in unserer Gesellschaft die Fähigkeiten haben sollte, Bäume, Vogelarten, Pflanzen und Reptilien zu erkennen. Das ist einfach Teil unserer Geschichte, unsere Kultur. Wenn wir als Bürger-Wissenschaftler*innen daran teilhaben und Sichtungen von Waldrappen – das ist eine vom Aussterben bedrohte Vogelart - in Apps eintragen, dann ist das eine Hilfe für die Wissenschaft und eine Bereicherung für alle Leute, die hier wohnen. Es ist Teil von unserem Leben, von unserer Naturerfahrung.

US: Das heißt, man kann sich als Bürger-Wissenschaftler*in beteiligen, aber wie können sich aber Mäzene, Philanthrop*innen oder Stiftungen bei euch noch engagieren?

Wir sind letztes Jahr in ein neues Gebäude übersiedelt, weil wir für unsere Forschung eine neue Infrastruktur gebraucht haben. Das alte Gebäude ist aber ein Teil der kulturellen Identität von Österreich. Ich denke, jeder Österreicher, jede Österreicherin kennt die Bilder von Konrad Lorenz und seinen Gänsen. Aus diesem Grund würden wir es sehr gerne renovieren, dazu benötigen wir ungefähr eine Million Euro.

US: Gibt es schon ein Konzept, was in dem renovierten Haus gemacht werden soll?

Wir haben die Vision, ein modernes Outreach Center (Mehrzweckzentrum) einzurichten, wo Student*innen, Gruppen, Volontär*innen und Bürger*innen bei der Datenerhebung und Auswertung mitmachen können. Es nisten dort die vom Aussterben bedrohten Waldrappe, sie suchen vor Ort nach Nahrung, auch die Gänse sind täglich dort. Es wäre also ein Teil der lebendigen Geschichte, ein Haus, nicht nur für die Wissenschaft, sondern für uns alle, es ist ja auch unsere Natur.

Zusätzlich würden wir gerne mit einem solchen Zentrum neue Ansätze verfolgen, um zukunftsfähiges Denken besser zu verstehen. Uns interessiert die Frage: Ob Tiere für die Zukunft planen können? Welche Mechanismen es im menschlichen Gehirn sind, die uns zukunftsfähig machen oder nicht? In diesem Zusammenhang würden wir gerne neue pädagogische Ansätze testen. Also z.B. lernen Student*innen dann besser, wenn sie in einer natürlichen Umgebung sind? Und wie können sie dann diese Erfahrung in anderen Bereichen ihres Lebens – als Inspiration oder neues Denken - umsetzen?

Es könnte also geforscht und gelernt werden, dafür gibt es keine Gelder aus traditionellen Finanztöpfen. Hier bräuchten wir zusätzliche Mittel aus verschiedenen Quellen. Stiftungen und Bürgerbeteiligung könnten da ein großes Stück beitragen, schließlich geht es auch um ein spannendes Bildungskonzept und eben um Teilhabe.

Als Forscher*innen haben wir das getan, was wir tun können, nämlich ein wissenschaftliche Forschungsprojekt einzureichen. Es ist ein sehr großes Projekt zum Thema zukunftsfähiges Denken.

US: Ein sehr inspirierendes Projekt. Wird hier auch das alljährliche Biologicum eingebunden?

Ja, das Thema „Zukunftsfähiges Denken“ ist auch unser Biologicum-Motto für die nächsten fünf Jahre. Wir wollen verschiedene Aspekte beleuchten, dazu laden wir Expert*innen ein und veranstalten Science Cafés für die allgemeine Bevölkerung, wo wir versuchen, sie zu involvieren. Es kann sich jede_r beim Biologicum 2022 anmelden und teilnehmen.

Anmerkunge der Redaktion, das Biologicum ist eine Veranstaltung, bei der Themen des Lebens aus vorwiegend biologisch-evolutionärer Perspektive beleuchtet werden, auch um damit wissenschaftlich fundiertes Denken und evidenzbasiertes Handeln zu fördern, und um zum Verständnis des Wertes der (Natur-)Wissenschaften für die Gesellschaft beizutragen. Als qualitativ hochwertige Veranstaltung mit naturwissenschaftlichem Grundton ist das Biologicum Almtal in Österreich einzigartig.

US: Sie sind in vielen Projekten engagiert, haben Sie auch bereits mit anderen Stiftungen zusammengearbeitet?

Ja, in Australien. Es war ein wichtiges Projekt, aber die Idee war noch nicht reif für ein Forschungsprojekt. Es ging um die Frage, ob die Größe des Naturparks mit dem Parasiten und Virenbefall der Tiere zu tun hat. Also wir haben erhoben, welche Viren und Parasiten die Tiere haben, die dann auch für den Menschen wesentlich sind. Dieses Projekt hat eine Stiftung finanziert und in der Tat haben wir Korrelationen gefunden. So konnten wir anschließend mit der Regierung zusammenarbeiten und Vorschläge aufgrund der Ergebnisse machen. Die Beziehung Mensch – Tier – Gesundheit ist ein wichtiges Thema. So geht es um das Wohlbefinden und der menschlichen Gesundheit, aber auch das der Tiergesundheit.

Stiftungen und Mäzene haben oft die Möglichkeit, Projekte in einer Phase zu finanzieren, in der sie noch nicht so ausgereift sind, um große Forschungsanträge zu schreiben. Man weiß, dass das Projekt Früchte trägt, aber noch nicht genau welche. Bei großen Projektanträgen, muss oft sehr klar formuliert werden, wie die Ergebnisse aussehen.

US: Sie betreuen auch ein Projekt auf den Galapagos Inseln?

Ja, wir haben ein großes Projekt dort. Es werden die Ratten ausgerottet und über die nächsten Jahre werden die lokal ausgestorbenen Arten wieder eingeführt. Auch dieses Projekt wird von Stiftungen finanziert, nämlich von der Island Conservation und re:wild von Leonardo DiCaprio. Es ist klassische Stiftungsarbeit, man weiß nicht, was passieren wird, wenn man lokal ausgestorbene Arten wieder freilässt. Man kann Hypothesen aufstellen, in einem Forschungsprojekt wäre das nicht abbildbar.

US: Ich habe jetzt noch eine Frage zur Situation der Biodiversität in Österreich. In einem Standard-Artikel vom 29.11.2021 las man den Titel: "Die Ampel für Artenvielfalt in Österreich steht auf Rot". Dabei wurde auch kritisiert, dass in der Schulbildung das Thema Biodiversität und Artenvielfalt, reduziert wird. Wie sehen Sie das?

Österreich ist optisch ein extrem schönes Land und diese Optik kann täuschen, wenn man nicht die Fähigkeit hat, die Biodiversität zu messen und Änderungen in der Biodiversität zu verstehen. Die Ursachen für diese Veränderungen - Österreich ist Teil von Europa - können durchaus die Konsequenz von anderen Phänomenen, wie Klimawandel oder veränderter Migrationen in anderen Ländern sein, sie können aber auch lokalen Ursprung haben. Man muss daher einfach ein Auge darauf behalten. Das ist, so glaube ich, sehr wichtig.
Die Bedeutung von Biodiversität nimmt zu, aber die Investition in Biodiversitäts-Forschung leider nicht. Diese zwei Parameter gehen ein bisschen auseinander. Zudem ist es mit einem Schulsystem gekoppelt, das die Leute auf der einen Seite nicht genügend im notwendigen Komplexitätsdenken ausbildet und auf der anderen Seite die emotionale Verbindung zu Natur nicht ausreichend herstellt. Denn, wenn wir die Kinder nur mit Komplexität und Verlust konfrontieren, ist man ja emotional eher deprimiert als involviert. Und da glaube ich, brauchen wir einen neuen pädagogischen Zugang, um die Komplexität und Zyklen besser zu verstehen. Biodiversität ist ein komplexes System. Österreich ist Teil eines komplexen Systems, das ist natürlich eine Herausforderung.

Daher müssen wir unbedingt eine positive Beziehung zur Natur herstellen und eine affektive emotionale Beziehung - Mensch-Tier, Menschen-Natur - in den Mittelpunkt stellten.
Denn wenn unsere Kinder nur mehr Interesse an Handys haben und nicht an der Natur, dann haben wir ein noch größeres Problem als den Klimawandel. Das heißt, wenn kein Mensch das als Problem wahrnimmt, dann wird niemand etwas tun.

US: Eine abschließende Frage: Wie gestaltet sich die Beziehung zwischen der Gemeinde Grünau und der Konrad Lorenz Forschungsstelle?

Also ich finde die Beziehung extrem positiv. Es ist erstaunlich, weil Wirtschaft, Politik als auch Wissenschaft an einem Strang ziehen. Ing. Hans Vielhaber ist mit der ASMAG GmbH der Präsident des Cumberland Wildparks. Er ist ein sehr erfolgreicher Unternehmer. Sein Motto lautet: Von der Biologie müssen wir uns etwas abschauen. Sie ist durch die natürliche Selektion geformt, optimiert und maximiert und spart an Ressourcen.

Auch mit dem Tourismusverband haben wir sehr gute Beziehungen. Ich finde, dass die Leute in Grünau im Almtal, sehr klug sind und wissen, dass diese Natur unersetzbar ist. Sie ziehen an einem Strang, nicht nur um die Natur zu schützen, sondern auch um von ihr zu lernen und das findet man nicht so oft.

US: Für mich ist das Almtal immer wieder wie ein Märchenland.

Ja, das ist interessant. Ich habe im letzten Jahr einen Beitrag zur Eröffnung der KLF geschrieben, dabei habe ich gelernt, dass das Almtal eigentlich Alben Tal hieß.
Der Name kam auch in Irland vor und bedeutet ursprünglich "Tal der weißen, leuchtenden Naturgeister" – die scheint man hier zu spüren.